URAKAMI

PER SHAKUHACHI + CONTRABASSO
gewidmet Fumio Shirato und Katsuya Yokoyama
(für Shakuhachi und Kontrabass)

URAKAMI
Versunken sind
Hügel,
Fluss
und
Kathedrale

Zürich 1990/91
Dauer ca. 12'

URAKAMI

Dass es Ermano Maggini um die Organik, um die Biologie der Klangeigenschaften ging, zeigt diese späte Wahl des Instruments Shakuhachi; selbst der Kontrabass untersteht diesem Aspekt und wirkt schon als quasi Solo-Instrument ungewöhnlich.
Durch diese überraschende Wahl steht die Komposition URAKAMI in einer Reihe mit Torso V und Torso VI für Clavier Cristal sowie der Komposition für die Glocken von Intragna. Dies vielleicht, weil der erzeugte Ton eine urtümlich eigene Gesetzmässigkeit aufrecht hält und verdeutlicht, eine Freiheit gleichsam dadurch, dass diese 'Instrumente' von der westlichen Klassik ausgelassen, nicht vereinnahmt wurden, und von daher nicht der Erwartungshaltung konzertanter Zuhörer unterliegen, obzwar gerade die Bambusflöte (die Glocken ebenso) tief in der für sie stehenden Tradition verwurzelt sind. Shakuhachi ist das Instrument des Atems und des Pilgers und Samurais und so auch des Widerstandes. Ermano Maggini hat seine Komposition URAKAMI für Shakuhachi und Kontrabass im Winter 1990/1991 geschrieben, und er hat sie einer Botschaft unterstellt, die da heisst: Hiroshima. Im Gedenken an die Opfer von Nagasaki–Urakami, Ort der Vernichtung durch die Atombombe. Auf dem Innenblatt der Notenschrift steht in grossen Lettern geschrieben: URAKAMI – 'Versunken sind / Hügel, / Fluss / und / Kathedrale'. Damit wird ein Verstummen signalisiert, das Verstummen von Leben und Kultur, von Mensch und Tier und Vegetation. Das Werk ist Warnung und Botschaft und Gedenken in einem und so aktuell wie damals.

Das Initial eines Abschieds
Die Aufführung URAKAMI vom 29. 8. 1991 im Stadthaus Zürich (Musikpodium) wurde zur letzten vom Komponisten miterlebten Uraufführung und setzte ein Siegel unter sein Lebenswerk.
Zitat aus der Biographie vergegenwärtigt jenes Konzert nochmals (Kliemand: Ermano Maggini (1931-1991) – Ein Schweizer Komponist, Ed. Müller & Schade 2014, Bern): 'Das höchst meditative Werk kam im Sommer 1991 im Zürcher Stadthaus (Musikpodium) zur Uraufführung, am 29. August, Vorabend des sechzigsten Geburtstages des Komponisten und zugleich am Tag des unheilvollen Befunds. Die wenigen Minuten dieser ergreifenden musikalischen Darbietung, geprägt auch durch den Atem der mächtigen Bambusflöte, Instrument der japanischen Pilger, diese wenigen Minuten der Erstaufführung wurden seltsamerweise durch jemanden gestört, der völlig ungeachtet der Musik lauten Schrittes durch den Raum ging. Diese Erinnerung ist unlösbar verknüpft mit diesem denkwürdigen Abend.' (ek)
Der exzellente Kontrabassist Fumio Shirato war auch der designierte Interpret im Trio für Violine, Gitarre und Kontrabass, Torso IV (1987), auch dieses Werk ist ihm gewidmet. Diese beiden Werke gelangten im In- und Ausland zur Aufführung. Oft wurde Torso IV von den Interpreten des Orches'Trio zusammen mit den Shakuhachi-Meistern in repräsentativen Konzertsälen aufgeführt, sowohl zu Lebzeiten von Ermano Maggini wie postum, in Zürich wie im Tessin, im In- und Ausland, in Japan an Stätten des Geschehens, so in Nagasaki im Distrikt Urakami. Der Kontrabassist Fumio Shirato und die Violinistin Noriko Shirato sowie der Gitarrist Walther Giger (alle aus Zürich) waren dem Komponisten über Jahre freundschaftlich zugetan, und dies über den Tod hinaus.
Die postume Einspielung auf CD erfolgte 1997 durch den namhaften Shakuhachi-Meister Tadashi Tajima und den Kontrabassisten Fumio Shirato; ihm und dem Shakuhachi-Meister Katsuya Yokohama, der 1991 die Uraufführung in Zürich souverän bestritt, ist dieses Werk ebenso gewidmet. (Vgl. auch die Einspielung auf CD Ed. Jecklin JS 317-2 2000). Auf der Instruktionsseite der vom Komponisten verfassten originalen Notenschrift notierte Ermano Maggini für die Interpreten u.a. diese Zeilen: 'Tempi e dinamica: Sono da interpretare assai liberamente, adattandoli all'intensità del suono e all'acustica dello spazio.'
In der Übersetzung: 'Tempi und Dynamik: sind ziemlich frei zu interpretieren, entsprechend der Intensität des Tons und der Akustik des Raums.'
(Und weitere Angaben, mit passenden Zeichen versehen) = Glissando (molto veloce). alto basso = Un quarto (anche meno) di nota, solo per le note marcate. Accento corto. – ppp ………….fffffff ……………..ppppp (Sultasto) poco a poco (sul ponticello) ritornando (sul tasto) (Senza vibrazione) / poco a poco (più vibr. possibile, poco a poco (senza vibr.) sino al niente'
Und weiter heisst es u.a.: 'eine Viertelnote und auch weniger…' und dann dieses 'sino al niente' – dieses Verschwinden in die Stille hinein, diese Auflösung. Exotische Instrumente bergen für einen Komponisten die Gefahr, handwerklich, mechanisch, effektvoll zu wirken – und damit in ein 'Kunsthandwerk' abzugleiten. Im Umgang mit allen Instrumenten entging Maggini dieser Gefahr, weil er sich virtuosen Klang-Verkleidungen und mechanischen Effekten zu entziehen wusste und jene verdichtete Strenge wahrte, die aus dem ledigen Klang erwächst. Das gilt auch und im Besondern für dieses Werk.
Maggini hatte 1991 das grosse Magnificat in Arbeit. Als er URAKAMI abschloss, hatte er noch zwei Werke vor sich, Torso X für A und B Klarinette solo, sein letzter Torso, – und das unvollendet gebliebene Werk HIOB für Sprecher, Chor und Orchester. Der Gedanke HIOB taucht angesichts dieser in URAKAMI aufgeführten Tempi und Stimmungsfelder auf. Sei es: Lento espressivo - devoto / ergeben, inquieto / beunruhigt, appassionato / leidenschaftlich, minaccioso / bedrohlich, deciso / entschieden, martellato / gehämmert, misterioso, violento / heftig, dolente / duldsam, religioso, fuori del tempo - ausserhalb der Zeit oder astrale.
Die Übergänge eines Werks zum nächsten sind tief und die Brücken meist unsichtbar. Und so wird diese Tondichtung auch zum Initial eines Abschieds und zur Reise. Hier, mit den Instrumentalwerken, die parallel zu den Torsi und Canti entstanden, endet der dritte Teil der von mir kommentierten Werkgeschichte. Als 4. Teil folgen die Vokalwerke.
Abschliessend jedoch eine Passage zu URAKAMI aus dem booklet zur postumen Einspielung vom Jahr 2000 (CD Ed. Jecklin JS 317-2):
Es ist geradezu konsequent, dass Maggini, der sich schon immer von der besonderen Klangfarbe der Flöten zu Werken anregen liess, sich auch der für westliche Ohren extremsten Herausforderung des Shakuhachi stellte. (…) Das Werk wurde am 29. August 1991 in Zürich (Musikpodium), noch in Anwesenheit des Komponisten, durch den Kontrabassisten Fumio Shirato und den Shakuhachi-Meister Katsuya Yokoyama uraufgeführt.
Während der letzten Jahre hat sich Fumio Shirato erneut des Werks angenommen und es zusammen mit dem Shakuhachi-Meister Tadashi Tajima immer wieder musikalisch zu vertiefen gewusst. Tadashi Tajima gilt als einer der namhaften japanischen Meister für Shakuhachi. In der Folge wurde Urakami mehrfach in Japan aufgeführt, u.a. 1999 in Kyoto und an der Stätte des grossen Unglücks unter dem Stern von Hiroshima, auf dem Hügel, in der Kathedrale der betroffenen Stadt Nagasaki, im Distrikt Urakami. 'Urakami' für Shakuhachi und Kontrabass gibt in diesem Spektrum den Einspielungen von Werken Ermano Magginis eine überraschende Färbung, die nach anderem Hören verlangt. Urakami ist eines der letzten Werke von Ermano Maggini und zugleich ein unerwarteter – und dennoch zwingender – Schlüssel zum Verständnis der Klangmaterie in seinem Schaffen.

Text: Evi Kliemand (2018)
Hrsg. Fondazione Ermano Maggini Intragna


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