MEDITAZIONE SU UNA TOMBA

PER LE CAMPANE DI INTRAGNA
(für die 6 Glocken des Campanile von Intragna geschrieben)

Intragna 1973
Dauer ca. 7'30„

Zur Werkgeschichte

Glockenspiele erklingen als Vorbereitungszeit auf ein Fest. In dieser Komposition erklingen die sechs Glocken von Intragna. Die Glocken hatten für Ermano Maggini seit der Kindheit akustische Bedeutung, sie schenkten ihm das Initial zur Klangwelt der Musik. Auf andere Weise erfuhr er das Singen der mehrstimmigen Volkslieder in der Osteria seines Elternhauses sowie die gregorianischen / ambrosianischen Cantaten, wie er sie als Schüler im Collegio Papio erlebt hatte. 'Meditazione su una tomba per le sei campane di Intragna', dieses Werk schrieb er 1973, und die Uraufführung fand im August desselben Jahres statt. Er war 42 Jahre alt.
Ein Jahr davor war in Zürich unerwartet die Malerin Carlotta Stocker verstorben, mitten aus ihrem Schaffen heraus, was Ermano Maggini tief betroffen machte. Sie hatte in seiner Jugend am allerersten Anfang seines Musizierens gestanden, hatte ihm eine bessere Gitarre vermittelt und ihn später ermutigt, nach Zürich zu ziehen, hatte in ihm die Perspektiven zum Musikstudium wachgerufen. Und zwei Jahrzehnte später, als hätte sie den angehenden Komponisten erkannt, bat sie ihn um ein erstes Werk, das ihr Ermano Maggini 1969 auch widmete: 'Cinque Disegni' für Flöte und Gitarre, uraufgeführt im August 1971 (vgl. CD und Edition). Und dann ihr plötzlicher Tod mit nur 50 Jahren im August 1972. Im August 1973 erklang diese Komposition für die sechs Glocken, bedächtig, aushallend, ausharrend. Neben Gino Maggetti, dem letzten Glöckner von Intragna, der da oben im Glockenstuhl am 'bateng' die Glocken zum Klingen brachte, stand Ermano Maggini, der Komponist, als müssten die anschlagenden Töne noch im Luftraum seines Geburtsortes ein Gedenken verkörpern, das nur ihn etwas anging – als hätte er sich selber das Werk zugeschrieben, das da über die Landschaft zog. Diese Glocken hatten ihm eine erste Brücke zu seiner Musik gebaut, sie standen am Anfang des sonoren Raums, sie waren die Initiale gewesen. Durch ihren Klang hatte er begriffen, was Klang bewirkte – nicht nur Zeit, sondern auch Raum, das war die Sprache der Musik. Diese Erkenntnis begleitete schon den Gitarristen und war prägend für sein ganzes Komponistenleben. Und in einem späteren Statement zu seinem Schaffen schrieb er dies:
'Mein musikalisches Schaffen basiert auf modalen Tonreihen mit begrenzter Tranpositionsmöglichkeit. Je beschränkter diese Transpositionsmöglichkeit ist, desto interessanter ist für mich der Weg.
Aus diesen Modi entstehen die Spannungsfelder der gesteigerten Intervalle, die ein elementarer Bestandteil meiner Musik sind. Gleichzeitig ergibt sich aus der Polyphonie meiner Werke eine lineare homophone Klangmasse.
Die Spannungsgesetze innerhalb der harmonisch-gedachten Obertonreihe führen mich zu meiner eigenen Klangfarbe, von der letztlich meine musikalische Sprache bestimmt wird.' (Ermano Maggini)
Ungewöhnlich für einen Komponisten der 'ernsten' Musik ist dieses Werk für die Glocken ja doch, – wer aber tiefer blickt, versteht noch eins:. Hierin begegneten ihm die Module, denen er sich auf Gedeih und Verderb in seiner musikalischen Sprache verschrieb; lange hatte er sich darauf vorbereitet, nun war ihm seine Sprache greifbarer geworden. Die Glocken, bis zurück in seine Kindheit, hatten für ihn eine andere Bedeutung als gemeinhin anzunehmen wäre.
Dieses 6-teilige Modul mit seinen spektralen Klangtexturen hoch über den Köpfen aller hatte es ihm früh angetan, diese akustischen Gesetzmässigkeiten waren auch ihm, dem Komponisten, enorm wichtig geworden, besonders deutlich wurde das, als sie noch von Hand angeschlagen erdröhnten, die Luft vibrieren liessen, und er einem grinsend verriet, dass eine der Glocken etwas 'daneben' im Halbtonbereich klinge – eine Schwingung und Frequenz, deren Auswirkung für ihn klanglich genau richtig lag. Dies alles werde sich verlieren, befürchtete er, und er behielt recht. So kam es, als die sechs Glocken auf ein elektronisches Laufwerk umgerüstet wurden und die Einrichtung der klobigen Tastatur mit dem Bateng, auf den sozusagen mit Fäusten geschlagen wurde, abgeräumt worden war. Im August 1973 aber gab es diese Einrichtung noch, und die hier Schreibende hatte mit ihrem kleinen Kassettengerät am Atelierfenster zu stehen, während die beiden, Glöckner und Komponist, oben im offenen Glockenstuhl am Manuale ihre Uraufführung vorbereiteten, und unter lautem Rufen vom Turm ihrem Fenster Zeichen gaben: ancora una volta, sei pronta! Und das Aufnahmegerät surrte, und das Surren einer Fliege verewigte sich mit! Und der erste Ton der Komposition erklang und hallte lange nach. Die Leute im Dorf stutzten ob der unzeitigen Klänge. Zu viel mehr kam es damals nicht. Gino, beglückt, aber doch etwas ratlos, stieg danach herunter von seinem Turm, und Ermano überreichte ihm lachend die von Zürich mitgebrachten neuen Triangel für dessen Mandoline, wie jedes Jahr.
Im Jahr 1973 war es das erste Mal, dass Ermano Maggini in der Ferienzeit in Intragna auch die Möglichkeit zum Komponieren vorfand. Denn seine Freundin Evi hatte im Frühjahr ihr Zweitatelier von Cavigliano nach Intragna verlegt, sich eingemietet im Dorf, in den oberen Etagen des höchsten Steinhauses, dessen seitliche Fenster auf den Campanile ausluden, so dass der Glockenklang das Haus geradezu durchfuhr. Das gefiel beiden.
Mittlerweile stand in diesem alten Haus auch ein altes Klavier, Hofpianofabrik Stuttgart Ackermann. Das Musikhaus Soldini hatte das schwere Ding – wie einst die fabulöse Glocke - von Locarno nach Intragna gebracht, es sollte bis zu Magginis Tod sein Komponierinstrument dort bleiben. Er mochte es. Als ihm zu Ohren kam, dass erwogen wurde, die Glocken elektronisch zu steuern, beunruhigte ihn das sehr, und es war, als müsste er mit ihnen noch ein Werk erschaffen, quasi auf dem Grab der weiten handgeschlagenen Resonanzen, um an den einstmaligen Klang zu erinnern. Etwas aber war für ihn erloschen. Und so war es auch.
So unspektakulär jene einzige Aufführung der von Hand geschlagenen Meditazione su una tomba im Sommer 1973 auch war, so spektakulär waren die zwei postumen Aufführungen durch Roberto Dikmann im Gedenken an den Komponisten. Am 21. April 1996 fand eine konzertante Uraufführung im Centro culturale Elisaron Minusio-Locarno statt, und zwar 'In diretta da Intragna via ponte radio' die Glocken als radiophone Übertragung live. Eine Hommage an Ermano Maggini, ergänzt vom Konzert mit Francesca Gianoni, flauto, Aldo Martinoni, chitarra und den Werken: Cinque disegni – Canto V – Atem – Meditazione su una tomba für die Glocken von Intragna.

Roberto Dikmann hatte diese Komposition für eine Registration der Fonoteca Nazionale bereits 1994 und dann anlässlich der postumen Uraufführung über die elektronische Anlage nochmals nachgespielt. Zwar fehlte jene einstige spektrale Magie des Klangkorpus, aber die Ahnung schwang mit, dass der verlautbare Klang im Sinne Ermanos ein Torso war, vom Ohr nur in Teilen erfassbar, als Fragment eines grösseren Ganzen, dessen Glieder in den Luftraum, in die Stille hinein wuchsen, dort in den Raum hinein verschwanden, sino al niente, fuori del tempo – vibrierend noch, wenn man so will, als wäre der Klang selbst nicht von hier - ja, im transzendenten Einvernehmen, nicht ganz von dieser Welt. Der Klangkorpus war dem menschlichen Ohr nur partiell vernehmbar, das war die Botschaft.
Am 23. Juli 2000 anlässlich des grossen Gedenkkonzertes ertönte Ermano Magginis Glockenspiel wieder: un concerto dedicato exclusivamente al compositore Ermano Maggini (1931-1991) – veranstaltet von Ticino Musica unter der Leitung von Janos Maszuros in der Chiesa parrocchiale San Gottardo in Intragna. Mit dem erstaunlichen Ensemble von Ticino Musica e i giovani delle masterclasses und Roberto Dikmann ( es gibt eine CD Live- Aufnahme des Konzertes). Auch die Zeitungen berichteten ausgiebig über diese denkwürdigen Anlässe.
Schon 1994 hatte wie gesagt die Fonoteca Nazionale diese Komposition von Ermano Maggini für die Glocken von Intragna in ihre Sammlung aufgenommen (CD - Suná da ligría Campane del ticino – Tessiner Glockenspiele 1994 Fonoteca Nazionale Svizzera - Documentazione Archivi – Comano). Der Aufnahmeleiter Werner Walter, der hierfür zuständig zeichnete und schon zu Lebzeiten des Komponisten verantwortlich war für die radiophonen Übertragungen von dessen Werken und später für die postumen Einspielungen am Radio Studio Lugano RTSI Rete due, schreibt im CD-booklet zum Glockenspiel dies:
'…Einen Spezialfall in mehrfacher Hinsicht bildet Intragna. Die einzige bekannte Originalkomposition eines 'ernsten' Komponisten für Tessiner Carillon. Ermano Maggini (1931-1991), Autor zahlreicher Instrumental- und Vokalwerke, schrieb 1973 Meditazione su una tomba für die sechs Glocken seiner Heimatgemeinde. Zweifellos war das Werk für handbespieltes Carillon gedacht: inzwischen ist auch dieser Turm voll elektrifiziert. Trotzdem sollte diese sehr spezielle Musik hier nicht fehlen (mitsamt Störgeräuschen der Elektromotoren); Roberto Dikmann spielt auf der elektromechanischen Klaviatur eines der wenigen in moll gestimmten Glockenspiele.' 'Al numero 38 ritroviamo un caso assolutamente particolare. Si tratta infatti del l'unica composizione originale per carillon ticinese scritta da un compositore di musica 'seria' Ermano Maggini (1931-1991) , autore di numerose opere strumentali e vocali, scrisse nel 1973, per il suo paese d'origine Intragna, questa Meditazione su una tomba per 6 campane. L'opera in questione è stata elaborata per un corillon manuale: oggi ormai anche la torre campanaria del paese delle Centovalli ê interamente elettrificata. Non può comunque mancare questa melodia particolare seppur proposta con il disturbo dei motori; alla tastiera elettromecanica di una delle poche torri campanarie intonate in minore suona Roberto Dikmann.'
Heute mag man sich wundern, dass diese Komposition noch nicht Teil des neuen elektronischen Repertoires des Campanile von Intragna geworden ist. Das Festhalten an der Konvention lebt wohl doch in der Elektronik weiter. Es wäre eine Gelegenheit, etwas nachzuholen und dem Sohn dieses Dorfes ein ungewöhnliches, doch würdiges Andenken zu schaffen, vernehmbar an Festen, im Marienmonat Mai und zur Adventszeit.
Ermano Maggini hätte sich gefreut, seine Komposition auf dieser CD mit den letzten noch handbetätigten Carillons des Tessins wiederzufinden. Denn noch in seinen letzten Stunden, abends im Advent, bewegte er beide Arme weit – horchte auf das Glockenspiel – und sagte schon fast wie im Traum: battono a mano… Die Komposition für die sechs Glocken von Intragna war nicht die einzige in jenem Jahr, vorangegangen war bereits 'Schläfentäler' für Bariton, Flöte und Violoncello (uraufgeführt im September 1973 in der Züricher Tonhalle und in Schaan, im Theater am Kirchplatz). In diesem Vokalwerk steht der Satz: 'Sterben ist leicht…' Schon da ein Memento mori, das erst in Torso I für zwei Violoncelli von 1973/74 seine Auflösung findet; Maggini hatte das Werk als Pendant zu den Tre Canti Sacri für Violoncello solo geschrieben. Als brächte das Violoncello, als brächten erst die Streicher ein neues eigenes Licht in die Klanggestalt. Und mit Torso I und den ersten Canti war ein doppelter nachhaltiger Auftakt gegeben, die Initiierung der grossen Werkzyklen: die Torsi (zehn würden es sein) und die Canti bis hin zum Ultimo Canto XXI. Der Komponist hatte seine Sprache gefunden und wusste genau, es gilt.

Text und Redaktion: Evi Kliemand, 2018
Hrsg. Fondazione Ermano Maggini Intragna
siehe. auch Biographie Evi Kliemand: Ermano Maggini (1931-1991) – Ein Schweizer Komponist. Orte des Schaffens. Orte der Begegnung.


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