"SCHLÄFENTÄLER"

für Bariton Flöte und Violoncello Sprache
Text: Evi Kliemand
1973
ohne Zeitangabe

Zur Werkgeschichte

'Schläfentäler', so lautet der Titel dieser Komposition, die Ermano Maggini 1973 schrieb. 1971 war er der jungen Lyrikerin und Malerin Evi Kliemand begegnet, dies anlässlich der Uraufführung von 'Cinque Disegni', er selbst spielte die Gitarre in jenem Werk. Und im anschliessenden Gespräch erkundigte er sich nach lyrischen Texten zur Vertonung. So entstand die Verbindung, die über den Tod hinaus Bestand haben sollte.
'Schläfentäler' hatte er ein paar Monate später selbst aus einem Konvolut von Gedichtzyklen herausgegriffen, es sind Gedichtsplitter, die auf etwas im Raum Stehendes antworten – und im Raum steht das Verstummen der Sprache, und da steht auch der Tod. Vielleicht geht den Texten eine Klage voran, es sind Klagelieder.
Die Sequenzen sind Teil eines breiteren Zyklus. Und es war gewiss mutig vom Komponisten, diese unbekannten, unveröffentlichten Texte für eine Komposition zu verwenden. Zur Aufführung in der Tonhalle verglich ein Kritiker diese hermetischen, dunkel anmutenden Wortfolgen mit der Dichtung von Hans Arp, möglicherweise, weil er an die Vertonung von Wladimir Vogels Arp-Gedichte erinnert wurde.

Die Uraufführung von 'Schläfentäler' fand am 10. September 1973 im Kleinen Tonhallesaal in Zürich statt, die Interpreten waren Fritz Etzensperger, Bariton; Marlis Joss, Flöte; Christof Escher, Violoncello sowie Hans Willi Häusslein, Klavier. Das Konzertprogramm verwies auf die geistigen Wurzeln von Magginis kompositorischer Ausrichtung. Aufgeführt wurden Luigi Cortese sowie Othmar Schoecks Vertonungen von Lenau, Meyer und Eichendorff; Olivier Messiaens 'Le merle noir'; Frank Martins Ballade für Flöte und Klavier; von Ermano Maggini die zwei Flötenwerke 'Der bemalte Vogel' und 'Ikaros' sowie 'Schläfentäler'.
Im Tages-Anzeiger vom 14. Sept. 1973 steht zu lesen:
'Drei Werke des 42jährigen, in Zürich lebenden Ermano Maggini zeigten einen Komponisten abseits vielbegangener Wege. Auch dort, wo Maggini Spielereien für die Flöte kreiert (Der bemalte Vogel) tut er es mit dem Willen zu kantabler Knappheit. Sein Lyrik-Zyklus 'Schläfentäler' wurde uraufgeführt: die menschliche Stimme rezitiert, geht in Sprechgesang oder angedeutetes Arioso über, dazu bieten Flöte und Cello (Christof Escher) eine karge, konzentrierte Begleitung. Nicht ungeschickt evoziert Maggini mit einfachsten Mitteln eine traumhafte Atmosphäre.'
Nur zwei Wochen später wiederholte sich dieses selbe Konzert, 'Schläfentäler' erfuhr eine zweite Aufführung, und zwar im Theater am Kirchplatz in Schaan anlässlich der Eröffnung einer ersten umfassenden Ausstellung, in der Werke der jungen Malerin und Lyrikerin Evi Kliemand gezeigt wurden, Bildwerke, die sowohl in Liechtenstein wie in ihrem Atelier in Intragna entstanden waren; abgeschiedene Orte, die auch dem Komponisten zur schulfreien Zeit bis zu seinem Tod ein Refugium für sein Schaffen bieten würden. Das bewirkte, dass er den Schulbetrieb, das Unterrichten von seinem eigenen kreativen Schaffen gut zu trennen vermochte.
An diesen drei Orten, wo er ausschliesslich komponierte und wo sein Lebenswerk entstand: Zürich – Lavadina – Intragna, warteten auf ihn drei Klaviere. Ermano Maggini schrieb alle Kompositionen am Klavier.
Naheliegend, dass in einem Jahrhundert, da eine Form des Verstummens um sich griff, auch künstlerisch versucht wurde, diesem Verstummen wieder zu einer Sprache zu verhelfen, denn auch die Sprache hatte ihre Unschuld verloren, in einer Zeit, da der Mensch die Menschlichkeit so sehr in Frage zu stellen hatte und die Sprache ob der ungeheuren Geschehnisse noch unter Schockstarre stand. Das erfasste alle Formen der Kunst, auch die Musik.

Text zur Werkgeschichte und Redaktion:
Evi Kliemand (2018/2019)
Fondazione Ermano Maggini Intragna

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G-70 - SCHLÄFENTÄLER 1970

von Evi Kliemand
1970, Triesen
Von Ermano Maggini vertont

G-70 Grabvögel

Grabvögel
fliegen
steiler

und dunkeln
beinah ein

Grabvögel
fliegen
steiler

G-70 Wind erfragt

Wind erfragt
Blumennamen

Samen breiten sich
im Flügel vor

was drechselt
die Achse
im Löwenzahn

was dunkelt
sie ein

G-70 klagendes

klagendes Antlitz
gekerbte Mutterrinde
erweinte Maske

Tod hämmert das
Bibelgesichtspergament

dunkel der Schmerzenspsalter
verschollen in der Sakristei
des vergessenen Gottes
und Trauerstarre um Rätsel

G-70 Einzeigeruhren

Einzeigeruhren
ticken leiser

Gräber keltern den Wein
und Zeit gerinnt
in Spiegeln

Amöbenstunden
Wirbelworte
Einzeigeruhren
ticken leiser

und Sprachsäulen
buckliger Gegenwart
ahnen Dauer

G-70 sie fragen Sterbende nie

sie fragen Sterbende
nie nach Blumen

wer aber trägt
das Pastinakszepter
im Zwischenraum

G-70 sie sterben leicht

sie sterben leicht
weiten sich tragen
Wurzeln im Mund
sterben zu leicht
und ihre Hände
reifen
im Halm

Eine erste Fassung dieser frühen Gedichte wurde von Ermano Maggini 1973 vertont, s. a. Hörbuchreihe Evi Kliemand / Die Anfänge www.kliemand.li

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