"KIESELIRIS"

Liederzyklus für Bariton und Klavier
Zürich 1974 / Lavadina 25.11.1978
Dauer ca. 14-15'

'…ein Fliegendes ruft / aus dem Stein/ Gräser wachsen/ wie Abels Feuer/…' so beginnt das Schlussgedicht dieses Liederzyklus – als Griffe es das Wort des vorangegangenen Vokalwerks auf, als antwortete hier eins jener Stimme, die die Stimme von Nelly Sachs war. Wobei deren Gedichte zu 'Teile dich Nacht' noch nicht publiziert waren, als die junge Lyrikerin 1970 diese Texte schrieb. 1970 aber starben Paul Celan und auch Nelly Sachs.

Die Lyrik der 70er Jahre kann fast nur ein Antworten sein auf die im grausamen Jahrhundert untergegangenen Stimmen. Und so hebt auch die Komposition 'Kieseliris' an mit dem Gedicht: 'Finsterfall/ Steintropfen/ wiedergefunden/ am Grabhügel/ einer Welt'.

Der sechsteilige Zyklus von Evi Kliemand war 1973 zusammen mit ihren Holzschnitten von der Edition Brunidor Paris/Vaduz bibliophil verlegt worden. 1974 vertonte der mit der Lyrikerin freundschaftlich verbundene Komponist diese Texte für Bariton und Klavier – wie schon davor 'Schläfentäler' für Bariton, Flöte und Violoncello und Sprecher. Die Begegnung 1978 mit dem Musiker Mario Venzago, 'Neue Horizonte' Bern, hatte Ermano Maggini darin bestärkt, die 1974/75 noch nicht ganz abgeschlossene Vertonung 'Kieseliris' nochmals vorzunehmen und für eine Aufführung bereitzuhalten.

- Am 4. 2. 1979 schreibt Ermano Maggini an den Bariton Niklaus Tüller in Konolfingen: Sehr geehrter Herr Tüller, Inzwischen werden Sie –Kieseliris- über Herrn Mario Venzago erhalten haben. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie zu meinem Werk Zugang finden könnten. Ich hatte Herrn Venzago erwähnt, dass ich noch eine unaufgeführte Komposition für Bariton solo zu Texten von Nelly Sachs geschrieben habe. Ich erlaube mir, Ihnen diese zu schicken. Würde ich es doch sehr schätzen, wenn durch Sie dieses Werk verwirklicht würde.

Am 15. März 1979 Bern antwortet ihm Tüller (sein Brief geht an die Niederdorfstrasse 50) :
Lieber Herr Maggini, Mit Interesse und Freude habe ich mir Ihre Kompositionen angesehen. Sicherlich wird sich eine Gelegenheit ergeben, auch das Werk nach Kompositionen von Nelly Sachs aufzuführen. Wir werden uns ja wahrscheinlich in Bern sehen. Ich freue mich schon jetzt darauf. P.S. Würden Sie mir bitte die Adresse von Evi Kliemand mitteilen, ich habe mich noch nicht bedankt für –Sätze- 1978 (… ).'

Und das Schreiben vom 26. 3. 1979: 'Ihre liebenswürdige Antwort hat mich sehr gefreut, vielen Dank. Umso mehr stehe ich in der Erwartung auf unsere persönliche Begegnung. Es ist schön, dass auch die –Sätze 78 – Ihnen etwas geben konnten, Frau Evi Kliemand Sonnblickstr. 6 9490 Vaduz wird sich darüber ebenso sehr freuen. Mit herzlichen Grüssen verbleibe ich - Ihr Ermano Maggini

Leider konnte nicht stattfinden, was so freudig geplant. Das Konzert vom 26. Mai 1979 im Radiostudio DRS Bern, organisiert von 'Neue Horizonte, Bern', mit den beiden Interpreten Mario Venzago, Klavier, und Niklaus Tüller, Bariton, musste am Tag der Aufführung abgesagt werden, einer Angina des Sängers wegen. Die Programmzettel lagen bereit.

Dass 'Kieseliris' weit über den Tod des Komponisten hinaus ohne Uraufführung blieb, abgesehen von einer privaten Aufführung in Berlin, die Maggini nicht als Uraufführung werten wollte, und dass auch das Vokalwerk 'Teile dich Nacht' bis heute keine Aufführung erfahren hat, kann vielleicht verstehen, wer Ermano Maggini kannte. Dieser setzte sich zwar während einer Zeit für eine Werkaufführung durchaus ein, meist schrieb er auf bestimmte Interpreten hin, wenn eine Aufführung aber nicht zustande kam, ging er weiter, konzentriert auf das, was gerade im Entstehen war. Mehr lag nicht drin. Anders, wenn Interpreten später nochmals auf ihn zukamen.

Vor diesem Hintergrund ist auch die postume Aktivität der von ihm ins Leben gerufenen Stiftung zu verstehen. In den ersten Jahren widmete sich der Stiftungsrat der Einrichtung der Archive und ersten Einspielungen, vorab in Berücksichtigung der Interpreten, die zu Lebzeiten mit dem Komponisten die Werke einstudiert hatten. Und eine weitere Gewichtung galt postumen Uraufführungen, so es die Mittel erlaubten, darunter zwei Orchesterwerke, ein Orgelwerk, Werke für Soli und auch die drei Streichquartette, die postum vom Gewandhaus Quartett Leipzig auf CD eingespielt wurden und die heute als Notenschriften ediert vorliegen. Auch wenn der Komponist die Aufführung auch dieses Vokalwerks nicht mehr erleben durfte, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass sein inneres Ohr die Werke, die er schrieb, sehr wohl vernommen hat.

Drei Jahrzehnte nach der Entstehung wurde 'Kieseliris' am 7. Januar 2007 in Liechtenstein, in der Musikwerkstatt im Rietli Triesenberg, uraufgeführt. Ein Konzert unterstützt von der Fondazione Ermano Maggini Intragna. (Das Konzert wurde auf CD aufgenommen.) Die Interpreten: Peter Naef, Bass-Barition; Raffael Kuster, Klavier; Hieronymus Schädler, Flöte. Zu hören gab es nebst der Uraufführung die Trilogie für Flöte und Canto V von 1978/79 sowie das Evi Kliemand gewidmete Werk 'Atem' für Klavier von 1976 (Auch diese beiden Notenschriften tragen den Vermerk 'Lavadina'.)

'Kieseliris' für Bariton und Klavier ist ein schlichtes Werk, verglichen mit den polyphonen Werken des Komponisten, den Orchesterwerken und Streichquartetten, oder verglichen auch mit den späten, breit angelegten Vokalwerken, die noch keine Uraufführung erlangten.
Das Konzert begann mit einer Lesung aus Kliemands frühen Gedichtzyklen. In der Einleitung zitierte die Lyrikerin Paul Celan: 'Von der Kunst ist gut reden. Aber es gibt, wenn von der Kunst die Rede ist, auch immer wieder jemand, der zugegen ist und… nicht richtig hinhört. Genauer: jemand, der hört und lauscht und schaut… und dann nicht weiss, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört, der ihn sprechen sieht, der Sprache wahrgenommen hat und Gestalt, und zugleich auch – wer vermöchte hier, im Bereich dieser Dichtung, daran zweifeln?-, und zugleich auch Atem, - das heisst Richtung und Schicksal…' (P.C. in Der Meridian 1960)

So mündet das dritte Gedicht von 'Kieseliris' in die Zeilen:
Flug und Sternenkälte / streifen den Stein / wo Schlaf Nachtwache hält ein Lehmkern ein Wortei / vielleicht / rollt/ auf randloser Milchbahn / an mir vorbei -

Die Malerin und Lyrikerin unterhält noch immer ihr Atelier im Triesenberger Weiler Lavadina; diesen Ort vermerkte Ermano Maggini mehrfach in seinen Partituren, auch noch 1990, denn dort, hoch überm Rheintal am weitausladenden kleinen Fenster, hatte er gern in der Walserkammer über seinen entstehenden Kompositionen vor dem Klavier gewacht, bewehrt mit Radierer und Bleistift die gewonnene Zurückgezogenheit nutzend.

Und die letzten Zeilen des Gedichtzyklus 'Kieseliris' per baritono e pianoforte wechseln vom crescendo in ein lento espressivo: 'es geschieht die Geburt deiner Flügel – hebe den Stein' – und zurückkehrend in die Stille lösen sie sich im Klang eines vierfachen Piano – lasciar suonare sino al niente.
Gefolgt nur vom letzten Eintrag, mit der gleichen Feder, die die Noten ins Reine schrieb: Ermano Maggini Lavadina 25-11-1978 –

Text und Redaktion:
Evi Kliemand (2018/21), Fondazione Ermano Maggini Intragna
Herausgeberin Fondazione Ermano Maggini Intragna
alle Rechte auch bei der Autorin
Werkausgabe: 23
Musikverlag Müller & Schade AG 3014 Bern
M&S 2609 ISMN M-979-0-50023-986-4

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