"Teile dich Nacht"

Liederzyklus für Bariton-Solo
Zürich 1975
Dauer ca. 14'

Mit Nelly Sachs zu sprechen: 'Sterben ist Tieferes'.

Anfang der 70er Jahre war die Betroffenheit noch spürbar, zwei massgebliche dichterische Stimmen waren verstummt: Paul Celan und Nelly Sachs. Ihre Zeilen hatten sich vor dem erschreckenden Szenarium des in seiner Mitte zerborstenen Jahrhunderts aufgerichtet:
'.. und Krieg ist auch in der Nacht….. wo alles Leuchten ausgeht / wenn die Erde es endlich empfängt'. Ihre Dichtung verliert nicht an Aktualität. Ermano Magginis erste Vokalwerke kreisten um den unabwendbaren und den sinnlos gewaltsamen Tod. 'Teile dich Nacht' ist seine vierte Komposition, welche Lyrik aufgreift. Das Werk erfuhr keine Uraufführung.

In Nelly Sachs' Gedichten spiegelt sich wie in einem Flusslauf das unsägliche Töten: 'ganz mit Tod getränkt/ die Auferstehung/ der Täufer.' Der direkte Blick auf das Geschehene wäre unerträglich, das Gedicht aber bietet eine Spiegelung, gleich dem Flusslauf zeigt es das unsägliche Bild, zeigt es nur, und die Bilder ziehen an der vorüber, die am Ufer sitzt, als bliebe sie am Leben – sie, die auch die Sprache ist und auf das gerötete Wasser blickt, und auch dies ist ohne Umkehr. Und mit den Worten der Dichterin - die Abendsonne 'die springt höher und höher…' ' Und schon hast Du Dein Fluchtgepäck/ hinüber-/ die Grenze ist offen/ aber vorher werfen sie alle deine <zu Hause>/ wie Sterne durchs Fenster / komm nicht zurück / Im Unbewohnten wohne/ und stirb.' In den Gedichten von Nelly Sachs vollführt die Musik einen Totentanz, sie spricht vom 'Flötengerippe ' Auch die Liebe befindet sich ausserhalb. Und doch erweckt ihre Stimme diesen Satz: 'Aber sehr heimlich das Ferne/ ist in ihrer Hand/ in Bewegung geraten….' Als begänne etwas zu antworten, ein Mitsummen auf dem Grabhügel der Sprache in ein neues Schweigen hinein… Als gäbe es Zeichen, 'darin Erlösung wohnt.' Das Schweigen mit der Sprache teilen. Teile dich Nacht.
'Der Raum unter den Füssen fortgezogen/ nicht um zu fliegen/ nur auszuleiden die Sterne/ die wollen ans Licht'. 'Vor den Wänden der Worte schweigen' – so hebt das dritte vertonte Gedicht an, um mit den Zeilen zu enden: 'ausserhalb bricht Tanz ein in den Gottesraum der Liebe / der Stern erhält die Wunde des Lebens.'

Auch Ermano Magginis Vogelflüge hatten etwas davon zu melden… Mit 'Der schwarze Vogel' ergänzte er 1974 seine Flötentrilogie. 1973 hatte er 'Schläfentäler' für Bariton, Flöte, Violoncello und Sprecher komponiert, und es entstand die 'Meditazione su una tomba' – Komposition für die sechs Glocken von Intragna, sein unumstösslichstes Klangmodul, das seine Kindheit akustisch nährte. Im Zeitraum von 1971-1976 schuf er seine ersten Werke für Violoncello, 'Tre Canti sacri', 1976 'Atem' für Klavier.

Ermano Magginis viertes Vokalwerk, 'Teile dich Nacht', umfasst sieben Gedichte der Nelly Sachs. Das Erste hebt an: 'VOR MEINEM FENSTER / der schilpende Vogel / vor dürrem Fenster / der schilpende Vogel / Du siehst ihn / du hörst / aber anders / ich sehe ihn / ich höre / aber anders im gleichen Sonnensystem / aber anders.' Es gibt kaum etwas hinzuzusetzen. Und doch, eine andere Zeile im Gedichtband lautet: 'Lasst mich den Vogel sehen/ der singt / sonst glaube ich die Liebe gleicht dem Tod…' Die Lyrik von Nelly Sachs verkörpert eben dieses Spannungsfeld – und sei es Sprache oder Musik.

Text zur Werkgeschichte und Redaktion:
Evi Kliemand (2018/19), Fondazione Ermano Maggini Intragna
Herausgeberin Fondazione Ermano Maggini Intragna
alle Rechte auch bei der Autorin
Werkausgabe: 22
Musikverlag Müller & Schade AG 3014 Bern
M&S 2606/01 ISMN M-979-0-50023-983-3

< zurück

Nelly Sachs
Teile dich Nacht - Die letzten Gedichte
Hsg. M. und B. Holmquist - Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1971
(Reproduktion mit Erlaubnis des Verlags)

I Vor meinem Fenster
II Sie schreien nicht mehr
III Vor den Wänden der Worte
IV Der Raum unter den Füssen
V Was für sprechende Sprösslinge
VI Auferstanden
VII Teile Dich Nacht

I
VOR MEINEM FENSTER
der schilpende Vogel
vor dürrem Fenster
der schilpende Vogel
Du siehst ihn
du hörst
aber anders
ich sehe ihn
ich höre
aber anders

im gleichen Sonnensystem
aber anders

II
SIE SCHREIEN NICHT MEHR
wenn es weh tut
Einer steigt auf die Wunden des Andern
aber es sind nur Wolken
auf die sie treten
die tropfen denn geisterhaft –

III
VOR DEN WÄNDEN DER WORTE –
Schweigen –
Hinter den Wänden der Worte – Schweigen –
Offenbarungen der Schwermut wachsen durch die Haut
Augen gehen über die Gletscherwasser des Leidens
Im Dunkeln tasten die Hände
nach den weißen Zinnen des Nichtseins
Außerhalb
bricht Tanz ein in den Gottesraum der Liebe
der Stern erhält die Wunde des Lebens –
IV
DER RAUM UNTER DEN FÜSSEN
fortgezogen
nicht um zu fliegen
nur auszuleiden die Sterne
die wollen ans Licht –

V
WAS FÜR SPRECHENDE SPRÖSSLINGE
auf dem Fensterbrett der Nacht
Was für Wahrsagungen
ausgerufen in der Luft
Was für ein hellseherischer Geolog
die aufgeschnittenen Pulsadern der Erde
auf ihrem Leidenstisch lesend
wenn die entseelte Haut des Jahrhunderts
die Stille bestreicht –

VI
AUFERSTANDEN
sind die Wüsten
hellhörig die Jahrmillionen
die sandsüchtigen Häuptlinge
der Erde –
Gedächtnis im Wolkenbild –
Wartend
im verkohlten Engel Nacht
steht
Einer
im Zeitgespann
die Adern aufgeritztv blutige Tränke
für die Untiefe
Wort

die neue Schöpfung
sprechender Sterne –

VII
TEILE DICH NACHT
deine beiden Flügel angestrahlt
zittern vor Entsetzen
denn ich will gehn
und bringe dir den blutigen
Abend zurück


< zurück