CANTO IV (Quintetto)

Quintett für Violine, Violoncello, Klarinette, Flöte und Klavier
Zürich 1978
Dauer ca. 3'

'Das rührige 'Ensemble Neue Horizonte' Bern (ENHB) vertrat am Weltmusikfest in Athen die Schweiz im vergangenen September mit einem aussergewöhnlichen Beitrag: 23 Kurzkompositionen sollten, analog den Kantonen, eine Art musikalisches Porträt der Schweiz vermitteln. ….' So berichtet der Tages-Anzeiger vom 6. 3. 1980. Canto IV für Violine, Violoncello, Klarinette, Flöte und Klavier komponierte Ermano Maggini 1978 auf Anfrage von Urs Peter Schneider - 'Ensemble Neue Horizonte' Bern. Das Werk wurde am Weltmusikfest in Athen im September 1979 uraufgeführt.

Das 'Ensemble Neue Horizonte' Bern brachte Canto IV auch späterhin zur Aufführung, so am 11. Februar 1985 im Lavaterhaus, St. Peterhofstatt, Zürich. Interpreten: Viktor Müller, Klavier, Hans Peter Frehner, Flöte, Urs Bumbacher, Violine, Hans Ruedi Bissegger, Klarinette, Peter George, Cello, Leitung René Karlen; ein Konzert der Internationalen Gesellschaft Neue Musik und der Stadt Zürich. Hier begegnete Magginis Werk sinnigerweise zwei Werken von Wladimir Vogel (1896-1984), der u.a. auch im Tessin Musikgeschichte geschrieben hat.

Canto IV verdeutlicht eine logische Fortsetzung der kompositorischen Tätigkeit von Ermano Maggini. 1977 hatte er HIOB für Bläserquintett komponiert und sein erstes Orchesterwerk Torso II geschrieben. Die Erweiterung des Klangkörpers war ihm ein brennendes Thema, und er ergriff die Möglichkeiten, die sich ihm boten. So kam die Anfrage wohl gerade recht, um diese Probe aufs Exempel an einem zeitlich verknappten Klangwerk zu erstatten. Ermano Maggini war ein Meister der verdichteten Form. Manche seiner Werke für Soli beanspruchten wenige Minuten. Knapp gefasst war auch der briefliche Austausch zwischen Urs Peter Schneider und Ermano Maggini:

Lieber Ermanno Maggini! Ich suche für Athen (Weltmusikfest IGNM 1979) ganz kurze Stücke von total 23 Schweizer Komponisten für unser Ensemble-Konzert. Haben Sie etwas oder schreiben Sie uns was? Verbindlicher Rahmen: höchstens 7 Musiker 1)Pf, Vl, VC FL C1 2) Dirigent, Dauer 2 Minuten oder weniger; falls Text: muss ein Tessiner Dichter oder Tessiner Dialekt etc…

Ich erbitte umgehend Bescheid, ob ja oder nein; Titel Besetzung etc. so bald wie möglich; komplettes Aufführungsmaterial bis spätestens November! Ich hoffe, dass es geht; wir werden das Programm auch andernorts bringen und auch einmal fürs Radio produzieren. Herzhafte Grüsse Urs Peter Schneider

Des Komponisten Antwort vom 19. Sept. 1978: Lieber Herr Urs Peter Schneider, Bezugnehmend auf unser Telefongespräch sende ich Ihnen Titel und Besetzung und damit meine Zusage am Weltmusikfest 1979 in Athen teilzunehmen. Titel des Stückes: Canto IV - seine Besetzung: Pf, V1,Vc,Fl, Cl. Ich danke Ihnen für die Aufforderung und grüsse Sie freundlich, Ermano Maggini

Wer weiss, vielleicht entschied sich Maggini zu diesem Zeitpunkt, auch die folgenden Kompositionen mit CANTO zu betiteln. So liess sich in der musikalischen Fortentwicklung der Inhalt diesem Vorhaben untergliedern, und er würde zugleich der jeweiligen Titelfrage künftig ledig sein, die ja oft angefordert wurde, bevor das Werk entstanden war. Es war ein guter Entscheid. 21 CANTI sollte er schreiben.

Am 29. 10. 1978 folgt dieses Schreiben: Lieber Herr Schneider, Wie vereinbart sende ich Ihnen hier beiliegend die Partitur: Canto IV (1978). Meine musikalische Sprache wird Ihnen vielleicht anfangs Mühe bereiten, es würde mich sehr freuen, wenn Sie Zugang dazu finden könnten. Ich hoffe, dass mir in der Reinschrift keine Fehler unterlaufen sind; ich stehe derzeit sehr unter Arbeitsdruck. Meine Anweisungen für die Dynamik und Phrasierung sollen als Vorschlag gelten. Ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung. Sie erreichen mich telefonisch, morgens zwischen 7h und 8h, abends ab 22h, sowie ganztags samstags bis montags. Ich danke Ihnen im voraus für Ihre Bemühungen und grüsse Sie freundlich E. Maggini

Und Urs Peter Schneider antwortet am 4. 1. 1979 Lieber Ermano Maggini, Herzlichen Dank für das Stück und für die liebe Widmung! Es gefällt uns (nach erster Lektüre) sehr! Falls Einführungstext (+ Ihre Biografie))nötig: bis 30. 1. 1979 an mich. Alles Ok!

Die Interpreten des 'Ensemble Neue Horizonte' Bern gaben schon am 7. Dez. 1979 auch in der Schweiz einige dieser in Athen aufgeführten 23 Werke (einschliesslich Canto IV von Ermano Maggini): so am Musikkollegium Zürcher Oberland in Wetzikon am 7. Dez. 1979 und in einem Podiumskonzert in Zusammenarbeit mit der Präsidialabteilung der Stadt Zürich, Musiksaal des Stadthauses, am 3. März 1980. Und weitere Aufführungen folgten.

Folgendes Statement von 1978 findet sich auch auf dem Programmzettel zum Konzert vom 11. Feb. 1985 im Lavaterhaus Zürich:

'Mein Musikalisches Schaffen basiert auf modalen Tonreihen mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit. Je beschränkter diese Transpositionsmöglichkeit ist, desto interessanter ist für mich der Weg. Aus diesen Modi entstehen die Spannungsfelder der gesteigerten Intervalle, die ein elementarer Bestandteil meiner Musik sind. Gleichzeitig ergibt sich aus der Polyphonie meiner Werke eine lineare homophone Klangmasse. Die Spannungsgesetze innerhalb der harmonisch-gedachten Obertonreihe führen mich zu meiner eigenen Klangfarbe, von der letztlich meine musikalische Sprache bestimmt wird.' Ermano Maggini

Zürichsee-Zeitung 15. Feb. 1985 Walter Labhart: 'Aus einem umfangreichen Zyklus von verschiedenen besetzten Auslegungen des Johannesevangeliums, (…) erklang mit Canto IV eine wenige Spielminuten beanspruchende Miniatur (…) eine Komposition, die ihren modalen Tonreihen durch die häufige Verwendung markanter Sekundschritte einen überdies durch koloristisch wirkungsvolle Instrumentation abgesicherten Klangreiz verlieh.'

Ein tieferes Verständnis der Klangmaterie gegenüber, dieses Hineinhören, verfeinerte Maggini schon während der vorangehenden Jahrzehnte als Gitarrist, der auch die Zwölftonreihen auf Herz und Nieren prüfte, so in seinen damals entwickelten und wieder verworfenen atonalen Fugen. Im Zentrum seines Spiels stand immer das Aushorchen des Klangs in allen seinen Eigenschaften, in der Fülle wie in der asketischen Reduktion. Diese Sensibilisierung des Gehörs wirkte bestimmend auf sein späteres Komponieren, bewirkte ein Mass, und dieses Mass war schon der Atem und Inhalt dieser in sich kongruenten Musik, wie sie in Canto IV als Quintett auftritt.

Offen bleibt, auf welche Weise ein inhaltlicher Leitgedanke (aussermusikalisch) in die Canti einfloss – ob dieser Leitgedanke (auch als Handreichung an die Zuhörer gedacht) dem Komponisten nicht doch reines Klangdenken blieb, ja bleiben musste, um der Gefahr einer Verbalisierung zu entgehen. Anzunehmen ist, dass ein dem Werk zugrunde liegendes Motiv in seiner reinsten Denkform und äussersten Empfindung für ihn immer nur Musik war. Dies gilt wohl auch für den Quell lebendigen Wassers, diesen Brunnen im Johannes Evangelium Kapitel IV. Die Musik - und so auch Canto IV - mag auf vertiefter Ebene ihren Teil zu den Inhalten beitragen, aber sie illustriert nicht, und es lässt sich nichts hinzufügen. Noch im selben Jahr schreibt Maggini am Canto V für Flöte solo. Vier Jahre werden vergehen bis mit Canto VI für Orchester dieser Zyklus der Canti 1982 seine Fortsetzung findet. Doch was ist Zeit, wo sie sich mit dem musikalischen Ereignis trifft? und Dankbarkeit - und die Gabe?

Text zur Werkgeschichte und Redaktion:
Evi Kliemand (2021), Fondazione Ermano Maggini Intragna

Herausgeberin Fondazione Ermano Maggini Intragna
alle Rechte auch bei der Autorin
Werkausgabe: 21
Musikverlag Müller & Schade AG 3014 Bern
M&S 2605/01ISMN M-979-0-50023-982-6

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