CANTO XX für Orchester

Intragna/Zürich 1989/90
Dauer ca. 14'
Transp. notiert
Besetzung: Flöte (Piccolo), 2 Oboen (Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, Trompete, Posaune, Pauken, Streicher.

Zur Werkgeschichte

Das Orchesterwerk CANTO XX von Ermano Maggini – sein letztes Orchesterwerk (das einzige ohne Auftrag entstand und keine Widmung trägt) wurde am 15. März 2014 als postume Studio-Einspielung im Radiostudio Lugano RSI Rete 2 zu einer ersten internen Erstaufführung gebracht. Ausführende: l'Orchestra della Svizzera Italiana (OSI). Das Werk wurde nicht am Stück zur Aufführung gebracht. Die Zusammensetzung oblag der Kunst des Tonmeisters. Eine Aufnahme (digitale Speicherung) wurde dem Archiv der Fondazione Ermano Maggini Intragna am 10.11.2014 zugestellt. Die Stiftungsräte haben das bedeutende und für diesen Komponisten charakteristische Werk erstmals zur Jahresversammlung 2014 ab Aufnahmeträger angehört. Zweifellos 'Ermanissimo', wenn auch eine interpretatorische Verfeinerung und vertiefte Einspielung und ein Konzert vor Publikum im Sinne einer echten Würdigung und Uraufführung noch aussteht. Das Radiostudio Lugano-Besso ist ein Ort, wo mehrere der Werke von Ermano Maggini ihre Erstaufführung erfahren durften.
Die Partitur von Canto XX hatte wie keine andere bereits eine Odyssee hinter sich gebracht, da dieses Orchesterwerk auf Anfrage in Kiew im Rahmen eines Pro Helvetia-Konzerts 2001 hätte aufgeführt werden sollen, das Unterfangen wurde abgesagt.

Ermano Maggini hat Canto XX für Orchester 1990 vollendet, ein Jahr vor seinem Hinschied. Diese letzten Jahre, es waren arbeitsreiche, auch was Konzerte anging, liessen aufwendige Werke entstehen. Einige Spätwerke konnten erst postum zur Aufführung gelangen oder warten noch auf eine Aufführung, Kompositionen also wie diese, die vom Künstler zu Lebzeiten nie vernommen wurden. Dazu gehört Canto XVI für Violoncello solo und Orchester; die Komposition gelangte im Jahr 1998 zur internen Studio-Aufführung durch die Violoncellistin Annick Gautier und das Orchestra della Svizzera Italiana unter der Leitung von Christof Escher. Auch alle drei Streichquartette wurden postum vom Gewandhaus Quartett Leipzig im Radio Studio Lugano, Rete 2 eingespielt und in der Zeitspanne von 1998-2002 im Rahmen von repräsentativen Konzerten als eine Zusammenarbeit der Fondazione Ermano Maggini Intragna zur Uraufführung gebracht (Zürich, Leipzig, Gentilino); daraus hervor gingen die CD Editionen Jecklin 2004 JS-319-2 und CD Jecklin 2000 JS-317-2.

Canto XX - Ein Spätwerk

Maggini hatte sich in den frühen 70ern vorgenommen, 21 Canti zu schreiben, entsprechend der Anzahl Kapitel im Johannes Evangelium. Den Ultimo Canto, das letzte Streichquartett, hat er im selben Jahr wie den Canto XX für Orchester, also ein Jahr vor seinem unerwartet frühen Tod, abgeschlossen. Beide Werke verraten eine luzide räumlich-akustische Energetik von hoher Transparenz, sie kommen in ihrer Klangsphäre und in ihren Intervallen und Obertonspektren, denen Maggini immer grösste Wichtigkeit beimass, kosmisch strukturierten Klanggebilden nahe.

Als Teil der ganzen Gestalt wirkt auch die Abwesenheit des Tons oder sein Verschwinden im Raum. Einen umfassenden Kompositions-Zyklus nannte Maggini daher: Torsi. Maggini sah den Raum, wohinein der Ton als Teil der ganzen Gestalt verschwindet; visuell hiesse das, die Gestalt beschliesst sich erst im Unsichtbaren. Damit nähern wir uns durchaus den mitgegebenen inhaltlichen Motiven der Canti überhaupt, und im Besonderen dem Motiv des Canto XX. Konkret situiert sich das 20. Kapitel am Grab des Auferstandenen: 'und Maria aus Magdala kommt früh, als es noch dunkel ist, zur Gruft und sieht den Stein von der Gruft hinweggenommen. Sie läuft nun und kommt zu Simon Petrus und zu dem andern Jünger, dem, den Jesus lieb hatte, und sagt zu ihnen: Sie haben den Herrn aus der Gruft hinweggenommen…. Denn sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er nämlich von den Toten auferstehen müsse. Da gingen die Jünger wieder heim. Maria aber stand aussen bei der Gruft und weinte. … und sie sieht zwei Engel in weissen Kleidern da sitzen. …Weib, was weinest du? Sie haben den Herrn hinweggenommen, und ich weiss nicht, wo sie ihn hingelegt haben. …. Und sie wandte sich um, und sah Jesus dastehen und wusste nicht, dass es Jesus war. Wen suchst du? Maria! Und Jesus kündigte ihr seine Auferstehung. Und: Der Auferstandene erschien bald auch den Jüngern.

Auffallend, dass im kompositorischen Werk von Ermano Maggini generell alle Stimmen singbar sind, der Klangaufbau bleibt der Stimme verbunden - das gilt auch innerhalb der Orchesterwerke. Jede einzelne Stimme könnte man sich einzeln anhören. Maggini nützt die den Instrumenten eigenen Möglichkeiten, lässt den einzelnen Ton an- und abschwellen, ähnlich der Dynamik einer menschlichen Stimme. Es ist wohl nicht von ungefähr, dass es im Werkverzeichnis nur ein Werk für Piano solo gibt, Bläser und Streicher hingegen, Flöte, Violoncello und Klarinette geniessen auch innerhalb der komplexeren Werke einen Vorrang. Die einzelnen Stimmen erhalten eine individuierte, in sich tragende Dimension, und es ist, als wäre da immer noch ein stimmhafter, singbarer Atem wirksam, als näherte sich der Komponist derart seiner Klangvision. Ermano Maggini blieb sehr genau und differenziert in seinen Dynamikangaben, seinen Crescendi und Decrescendi. Ob die Stimmen gegenläufig, sich verschieben oder parallel verlaufen, ihre in Zeit und Raum gefächerte Überlagerung wird als Transparenz wahrgenommen. So weitgespannt, so enggefügt diese Sequenzen auch sein mögen, dieses Nacheinander wird dem Komponisten zu einer Gleichzeitigkeit. Wie die Gleichzeitigkeit von Wolken konstituieren, vervollständigen diese Klangwolken recht eigentlich diese Musik. Daraus liest sich, dass Ermano Maggini eine höchst präzise Klangvorstellung hatte, er wusste ziemlich genau, wie der Ton sich verbreiten würde, wie es tönen sollte. 'Dass das Werk hervorragend ausgehört sei', wusste ein Rezensent schon beim Anhören eines der ersten Orchesterwerke zu bemerken. Das gilt in komplexerem Mass fürs Spätwerk. Maggini mag seine Kompositionen auch visuell empfunden haben, in allem ist ein plastischer räumlicher Duktus spürbar, ein sinnenhaftes Element. Wenn er sieben Forte notierte, so hat er auch sieben Forte gemeint; ein informeller Maler hätte an diesen Stellen sehr wahrscheinlich seine Pinseleinsätze verstärkt und seinen Farbauftrag intensiviert. Maggini pflegte nicht von ungefähr regen Umgang mit bildenden Künstlern seiner Zeit. Das Räumliche aber war ihm zugleich ein Transzendentes.

Text zur Werkgeschichte und Redaktion:
Evi Kliemand (2018), Fondazione Ermano Maggini Intragna

Herausgeberin Fondazione Ermano Maggini Intragna
alle Rechte auch bei der Autorin
Werkausgabe: 19
Musikverlag Müller & Schade AG 3014 Bern
M&S 2558/01 ISMN M-979-0-50023-957-4

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