VOM LEBENSSTROM' - CHORWERK (für gemischten Chor)

Intragna 4.1983
Gewidmet an Lina Kliemand
Text: Evi Kliemand

Zur Werkgeschichte

Uraufgeführt wurde dieses von Ermano Maggini 1983 für gemischten Chor komponierte Werk am 6. Mai 1984 als Teil eines die Kirchen-Renovation der Pfarrkirche Balzers abschliessenden Vortrags; die Veranstaltung stand unter dem Patronat der Liechtensteinischen Kunstgesellschaft. Evi Kliemand, Schriftstellerin und bildende Künstlerin, unternahm es, der dortigen Gemeinde etwas von der Inhaltlichkeit und Gestaltung der neuen, nicht ohne Widerspruch gebliebenen Glasfenster näher zu bringen; sie hatte ihren Künstlerkollegen Martin Frommelt während der Entstehung dieser Fenster begleitet und durch die Gestaltung des Windfangs selbst einen Beitrag zur Innenausstattung geleistet. Und so hatte sie 1983 diesen Text verfasst, der auch zum Vortrag werden sollte - und in dem dieses Gedicht vorkam; es trug in sich den Leitgedanken von einem dieser acht Glasfenster: In ihm war das Leben (Joh. 1, 1 / 4). Und so hatte Ermano Maggini das Gedicht als Chorwerk für den Schülerchor der Kantonsschule Wiedikon ausersehen, und die Komposition wurde vom Chor der Wiedikoner Kantonsschule, 4. Klasse, am 30. 3. und am 24. 4. 1983 in Wiedikon/Zürich im Schülerkonzert unter der Leitung von Werner Zumsteg aufgeführt (es gibt einen Konzertmitschnitt auf Kassette Dolby (heute Archiv EM ZB). Jener Vortrag in Balzers bot sich an, dieses Chorwerk mit dem Singkreis 'Ulrich von Liechtenstein' offiziell an die Öffentlichkeit zu bringen und als Uraufführung zu bewerten. Dass der Komponist das Werk Lina Kliemand (1914*) widmete, hatte zweifache Relevanz: einerseits gab ihr Geburtsdatum Anlass dazu, und andererseits, was noch ausschlaggebender war, spricht aus diesem Gedicht eine Erinnerung, eine Erinnerung der Verfasserin an die früheste Kindheit, da sie und ihre Mutter vor dem Einschlafen ein Abendlied anstimmten, das da lautete: 'Alles Leben strömt aus Dir/ und durchwallt in tausend Bächen/ alle Welten alle sprechen/ Deiner Händewerk sind wir/ / Dass ich fühle, dass ich bin…'. Dieser bekannte Liedtext findet in dem Gedicht, wachgerufen durch die Betrachtung des einen Glasfensters, seinen Widerhall und klingt somit in den vertonten Zeilen weiter: in ihm war / das Leben / war in ihm / / Vom Lebensstrom / erfasst, / ströme ich gegen ihn, / ströme auf den zu / in dem das Leben war, / ströme entgegen, denn / das Leben war in ihm / und mit seiner ganzen Kraft/ wachse ich hinüber… / /

Die abstrakte Licht- und Farbmalerei, um die es in dem Vortragstext auch ging, hat auf natürliche Weise vieles gemeinsam mit den Raumschaffungen der Musik. Maggini ist in allen seinen Werken auf die Ausweitung der Stimmen angelegt; Teil seiner Tonsprache ist, was mit den Stimmen, den Klängen im Raum geschieht, wenn sie sich losgelöst bewegen. Es ist wie in der Glas-Malerei, ohne das Licht fehlt ein Atem, ohne seine organische Ausdehnung, Vermengungskraft und Schwingung kann nur die halbe Komposition weitertragen. Im Atem ist ein Mass angelegt.

Vielleicht weist die grosse Dichterin Hilde Domin darauf hin, wenn sie 1975 in ihrem Essay: Wozu Lyrik heute? über die 'Ausübung einer Kunst, und sei es die des Worts oder die des Bilddenkens', schreibt, 'Das moderne Gedicht muss eingeatmet werden. Der Atem ist das Medium des Gedichts. In ihm vereint sich Form und Inhalt. (…) Die Zeilen führen den Atem des Lesers – es sind Atem-Einheiten' (…) obzwar auch optische Einheiten, die Zeilen ganz wie die Leerzeilen.' Was hier angesprochen wird, lässt sich auf die Musik genauso übertragen, Musik lebt aus diesem eigen erzeugten Klangraum und Atem.

Text zur Werkgeschichte und Redaktion:
Evi Kliemand (2018/2019)
Fondazione Ermano Maggini Intragna

Der Lebensstrom

In ihm war / das Leben / war in ihm

Vom Lebensstrom / erfasst, / ströme ich gegen ihn, /
ströme auf den zu / in dem das Leben war, / ströme entgegen, denn /
das Leben / war in ihm / und mit seiner ganzen Kraft/ wachse ich hinüber. / /
Ein bunter Strom wirft viel / Materie auf und bunte Welt /
und Angst und Zeit und allerlei. / Und Angst und Zeit und allerlei. / /
Vom Lebensstrom / erfasst, / ströme ich gegen ihn, ströme auf den zu,/ in dem das Leben war, / ströme entgegen, denn / das Leben /
war in ihm, und mit seiner ganzen Kraft / wachse ich hinüber. / /
……………………

Obwohl der Strom im Bildraum/ nach unten fällt, steigen / seine Ufer wie im Flug / zurück zum Quell. / /
Das Gefälle hebt die Sehnsucht nach / dem Quellort über allem Sog nicht auf. / Über dem Zeitlichen oder / ganz innen in der Zeit / wird Welt und Raum still. / /
Vom Lebensstrom erfasst, / ströme ich gegen ihn, /
ströme zu ihm hin. / /
Nicht nur die kleine Einzelform in Blau, / die wie ein Ahornsamen aufwärts fliegt, / nicht nur sie, / alle Formen streben mit uns /
über den Strom zurück hinauf. / / eine vom Wind getragene Saat, / an diesen Quellort, wo alles, / das Blau, das Rot, das Gelb, das Grün / sichtbar zur Ruhe kommt / finden wir das Wort: / das Leben war in ihm. / /
Evi Kliemand (1982)

Anmerkung: Die erste Strophe dieses Gedichts 'Vom Lebensstrom' hat der Komponist Ermano Maggini für gemischten Chor (1983) vertont. Das Gedicht wurde 1987 erstmals zusammen mit weiteren Gedichtzyklen publiziert in dem Band: Evi Kliemand Die Einfaltslieder Gedichte. Cantina Verlag Goldau. Innerschweizer Lyriktexte. www. kliemand.li
Der vollständige Vortrags-Text von Evi Kliemand zu den neuen Balzner Glasfenstern (1984) erschien 1988 in Band 5 Jahrbuch der Liechtensteinischen Kunstgesellschaft - vgl. auch Sonderdruck

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